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Interviews, Videos & GastartikelVeröffentlicht am 28. November 2024

Kulturgüter im Krieg: 70 Jahre Schutz durch das Haager Abkommen für den Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten

Interview mit Dr. Michaela Schärer, Direktorin des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz BABS zum 70. Jubiläum des Haager Abkommens für den Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten

Frau Schärer, in den letzten zwei Jahren hat die Zerstörung von sakralen Stätten, historischen Gebäuden, Museen und Denkmälern in aktuellen Konflikten – insbesondere in der Ukraine – für Schlagzeilen und scharfe Reaktionen gesorgt. Im Gegensatz dazu wird der Heimat- und Denkmalschutz hierzulande gelegentlich als Hindernis für Innovation betrachtet. Welche Bedeutung haben Kulturgüter für die Menschen und warum ist ihr Schutz auch in der Schweiz von so grosser Wichtigkeit?

Michaela Schärer: Unsere Kulturgüter sind ein wichtiger Teil unserer Identität und unserer kollektiven Erinnerung; sie sind für den sozialen Zusammenhalt und die Resilienz unserer Gemeinschaften unerlässlich. Diese Bedeutung wird oft erst spürbar, wenn ein vertrautes historisches Bauwerk Schaden nimmt. Der Kulturgüterschutz in der Schweiz kümmert sich um die Bewahrung von historischen Stätten, archäologischen Funden, Denkmälern und beweglichem Kulturerbe. Diese Bemühungen stärken unsere Widerstandsfähigkeit und fördern gleichzeitig das Verständnis für unsere Vergangenheit, auf welchem auch nachhaltige Innovation bauen kann. Das naheliegendste Beispiel ist der Tourismus, bei dem neben dem Natur- auch das Kulturerbe eine tragende Rolle spielt.

Dieses Jahr feiert die Staatengemeinschaft das 70. Jubiläum des Haager Abkommens für den Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten (HAK). Es wurde 1954 nach den Zerstörungen während des 2. Weltkriegs verabschiedet und ist die älteste Kulturkonvention der UNESCO. Warum ist dieses Übereinkommen heute noch immer von grosser Relevanz?

Die aktuelle geopolitische Situation, menschlich verursachte Notlagen sowie der Klimawandel gefährden unsere Kulturgüter. Die Vernichtung von Kulturgütern in bewaffneten Konflikten ist zur gezielten militärischen Strategie in der hybriden Kriegsführung geworden. Zudem wächst das Bedürfnis nach Stabilität in einer Welt, in der Krisen durch das Internet und soziale Medien intensiviert werden. Das Haager Abkommen ist deshalb wichtiger denn je, da Kulturgüter einen wesentlichen Beitrag zu dieser Stabilität leisten können und Zugang zur Kultur ein Menschenrecht ist. Dieses humanitäre Abkommen bietet Regeln für den Umgang im Kriegsfall und ist gleichzeitig eine Grundlage für die Strafverfolgung. Es bildet damit ein zentrales Instrument sowohl für die Prävention als auch für den Wiederaufbau einer Gemeinschaft nach einem Krieg. Ferner bietet es die Basis für Schutzmassnahmen auch gegen Gefahren bei Naturkatastrophen und Notlagen, die in den nächsten Jahrzehnten zunehmen werden. Die Frage nach der Relevanz ist unbestritten. Tatsächlich ist das Abkommen von solcher Wichtigkeit, dass Diskussionen über ein weiteres Protokoll geführt werden, wo unter anderem auch neue Gefahren für Kulturgüter wie zum Beispiel Cyberattacken geregelt werden sollen.

Die Schweiz hat das Abkommen 1962 ratifiziert. 1966 wurde zudem das erste «Bundesgesetz über den Schutz der Kulturgüter bei bewaffneten Konflikten» verabschiedet und es wurden konkrete Massnahmen festgelegt. Eine dieser Massnahmen sieht die Erstellung eines Inventars vor, das die Kulturgüter in der Schweiz für den Kulturgüterschutz priorisiert. Warum bewertet man Kulturgüter und vor allem wie?

Das Haager Abkommen verlangt den uneingeschränkten Schutz und die Respektierung aller Kulturgüter in bewaffneten Konflikten. In der Schweiz, einem Gebiet mit einer hohen Dichte an Kulturgütern, entsteht damit eine herausfordernde Aufgabe. Die Armee – obwohl nicht primär für den Schutz von Kulturgütern zuständig – muss diese in Kampfhandlungen respektieren, ähnlich wie andere zivile Strukturen. Kulturgüter und ihre direkte Umgebung dürfen grundsätzlich nicht militärisch genutzt werden. Nur wenn absolut zwingende Gründe vorliegen, welche eine potentielle Schädigung oder Zerstörung des Kulturguts zumutbar machen, darf dieser Schutzstatus durch befugte Militärangehörige kurzfristig aufgehoben werden. Zur Vorbereitung auf solche Entscheidungen ist ein Inventar der bedeutendsten nationalen und regionalen Kulturgüter erforderlich. Die Bewertung wird von Fachleuten der Eidgenössischen Kommission für Kulturgüterschutz in Kooperation mit dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und den Kantonen vorgenommen. Das Inventar bildet also eine Prioritätenliste, sie ist ein zentrales Instrument für den Kulturgüterschutz in der Schweiz und bildet die Grundlage für die zivil-militärische Zusammenarbeit in diesem Bereich.

In der Schweiz ist der Kulturgüterschutz ein integraler Bestandteil des Bevölkerungsschutzes
Michaela Schärer, Direktorin BABS

Wie Sie bereits erwähnt haben, sind Kulturgüter nicht nur durch bewaffnete Konflikte gefährdet. Man denke an den Brand der Notre Dame 2019 in Paris, das Feuer in der Alten Börse in Kopenhagen oder die Naturereignisse in der Schweiz in diesem Jahr. Sieht das Abkommen oder die Gesetzesgrundlage in der Schweiz auch für solche Szenarien Massnahmen vor?

Nach den Balkankriegen in den 1990er Jahren forderte die internationale Staatengemeinschaft eine Erweiterung der Haager Abkommen, die unter anderem eine Basis für Schutzmassnahmen im zivilen Bereich gegen Risiken wie Feuer oder Gebäudeeinstürze umfassen sollte. Dies führte zum 1999 verabschiedeten Zusatzprotokoll, das die Schweiz 2004 ratifizierte. Aufgrund der zunehmenden Bedeutung von Naturkatastrophen im Kulturgüterschutz wurde auch das Bundesgesetz über den Schutz der Kulturgüter (KGSG) 2015 totalrevidiert. Diese Version des Gesetzes schafft die Grundlagen für sogenannte Notfallplanungen, die für die Kulturgüter zur Prävention und effizienten Nachsorge bei erfolgtem Schaden erstellt werden müssen. Diese Planungen werden in Zusammenarbeit mit dem Kanton, der Eigentümer- oder Besitzgesellschaft eines Kulturguts, dem Zivilschutz und den Blaulichtorganisationen abgestimmt und optimalerweise regelmässig geübt, damit im Falle eines Ereignisses alle wissen, was zu tun ist.

Die Schweiz kennt den Kulturgüterschutz also als Zusammenarbeit unter verschiedenen Partnerorganisationen. Welches sind die Vorteile eines solchen Systems?

In der Schweiz ist der Kulturgüterschutz ein integraler Bestandteil des Bevölkerungsschutzes, der von einem koordinierten Netzwerk getragen wird. Diese enge Kooperation erlaubt ein effizientes Katastrophenmanagement, das zur Sicherheit für Menschen und Infrastrukturen einen entscheidenden Beitrag leistet. Zentral für den Kulturgüterschutz ist das speziell geschulte Personal im Zivilschutz, das auch in Stabsarbeit und Krisenmanagement ausgebildet ist und als wichtige Verbindung zwischen den kulturellen Einrichtungen und den Einsatzkräften wie z.B. den Feuerwehrdiensten fungiert.

Das Thema Kulturgüterschutz hat in den letzten Jahren an Aufmerksamkeit und Bedeutung in Europa gewonnen. Woran liegt das?

Das bislang stabile Sicherheitsgefühl in Europa, gestärkt durch die lange Friedensperiode nach dem Kalten Krieg, wurde durch den Konflikt in der Ukraine abrupt erschüttert. In solch unsicheren Zeiten suchen Menschen nach vertrauten und verbindenden Strukturen, was die Bedeutung von Kulturgütern in den Vordergrund rückt. Diese erhalten vermehrt Aufmerksamkeit und werden deshalb leider auch zur Zielscheibe – sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinn. Ereignisse wie der Brand von Notre Dame haben ebenfalls die öffentliche Wahrnehmung und den Willen zur Prävention von Kulturgüterschäden stark beeinflusst. Nichtsdestotrotz liegt noch viel Arbeit vor uns.

Zu welchem Umdenken hat der Krieg in der Ukraine im Kulturgüterschutz in der Schweiz geführt?

Ich knüpfe an die vorherige Antwort an. Der Krieg in der Ukraine und die z.T. bewusste Zerstörung von Kulturgütern als Symbol der Auslöschung einer Identität hat Kulturgüter ins Rampenlicht gerückt, was die Sensibilisierung für ihren Schutz verstärkt hat. Vor diesem Konflikt wurden Vorbereitungen auf bewaffnete Auseinandersetzungen in vielen Ländern Europas aufgrund der unwahrscheinlichen Kriegsgefahr vernachlässigt. Nun, da der Krieg in Europa zur Realität geworden ist, besteht dringender Nachholbedarf, auch im Bereich des Kulturgüterschutzes. Es ist entscheidend, dass kulturelle Institutionen erkennen, welche Verantwortung sie für den Schutz ihrer Kulturgüter tragen, denn im Ernstfall kann die Armee keine Evakuierungen in Museen organisieren. Diese Planungen müssen Teil der Notfallvorbereitungen jeder Kultureinrichtung sein, wobei der Zivilschutz und das eigene Personal eine zentrale Rolle spielen müssen. Ein Konzept mit Kulturgüterschutzräumen für die vertikale Evakuierung besteht bereits seit Jahrzehnten in der Schweiz und wird aktiv vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz gefördert. Eine allfällige konkrete Umsetzung muss jedoch vorbereitet werden.

Die Vernichtung von Kulturgütern in bewaffneten Konflikten ist zur gezielten militärischen Strategie in der hybriden Kriegsführung geworden.
Michaela Schärer, Direktorin BABS

Wie funktioniert die Zusammenarbeit zwischen Armee und zivilen Behörden, um den Kulturgüterschutz zu stärken?

Auch im Bereich des Kulturgüterschutzes ist die zivil-militärische Zusammenarbeit von entscheidender Bedeutung. In bewaffneten Konflikten ist es essenziell, den Respekt und Schutz von Kulturgütern sicherzustellen, was in der Schweiz aufgrund der hohen Dichte an Kulturgütern besonders herausfordernd ist. Da die Schweizer Armee gemäss Auftrag in diesem Bereich keine Kernkompetenz hat, ist sie auf die Expertise und Unterstützung der Expertinnen und Experten aus Bund und Kantonen angewiesen. Diese Zusammenarbeit wird in Militärübungen praktiziert. Auch gibt es seit Jahren ein Ausbildungs- und Sensibilisierungsprogramm in der Militärakademie, in der Höheren Kaderausbildung sowie im Armee-Ausbildungszentrum Luzern.

Welches sind die nächsten grossen Herausforderungen im Bereich Kulturgüterschutz?

Die hybride Kriegsführung bringt neue Herausforderungen für den Kulturgüterschutz mit sich, insbesondere im Bereich der Cybersicherheit. Der Kultursektor produziert heute ebenfalls umfangreiche digitale Datenmengen, von digitalen Kunstwerken bis hin zu Digitalisaten archivarischer Dokumente. Zwei zentrale Herausforderungen sind Fragen zur sicheren Langzeitarchivierung und die Umsetzung von Sicherheitsmassnahmen gegen Cyberangriffe oder Stromausfälle in kulturellen Institutionen. Diese Herausforderungen sind für viele Museen aufgrund fehlender Ressourcen und IT-Kompetenzen besonders gross. Zudem erfordern Klimawandel und Naturkatastrophen neue Schutzmassnahmen gegenüber Extremwetterereignissen wie Hochwasser und Hitze.

Am 28. November 2024 findet im Landesmuseum Zürich ab 17.30 Uhr eine Podiumsdiskussion zum Thema «Kulturgüter im Krieg. Dialog zum 70. Jubiläum des Haager Abkommens für den Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten» statt. Mehr Informationen und den Link zur Anmeldung finden Sie unter Kulturgüter im Krieg (landesmuseum.ch).

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